Mit der „Agenda Gesundheitsförderung“ rückt das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsument:innenschutz die Gesundheitsförderung in Österreich stärker in den Mittelpunkt. In einem breiten Beteiligungsprozess werden die Perspektiven der Bevölkerung, von Expert:innen, Stakeholder:innen relevanter Praxisfelder und von Akteur:innen aus der Politik zur Zukunft der Gesundheitsförderung in Österreich, erhoben.
„Ziel ist die stärkere Verankerung der Gesundheitsförderung in Österreich, um eine Zukunft in guter Lebensqualität, mit vielen gesunden Lebensjahren und Chancengerechtigkeit für alle in Österreich lebenden Menschen zu ermöglichen.“ (siehe)
Der Prozess baut auf den Ergebnissen des strategischen Zukunftsprozesses „Gesundheitsförderung wird System“ des BMSGPK auf, bei dem über 150 Expert:innen Visionen und erstrebenswerte Entwicklungen für die Gesundheitsförderung 2050 in fünf wesentlichen Gesellschaftsbereichen (Gesundheit und Soziales, Wohnen und kommunales Setting, Arbeit und Wirtschaft, Bildung und Kultur, Mobilität und Umwelt) erarbeiteten (Vision Gesundheitsförderung 2050). Zusätzlich wurden über 2.000 Personen im Rahmen einer Erhebung des BMSGPK zum 10-jährigen Jubiläum der Gesundheitsziele Österreich, um ihre Meinung zu den Rahmenbedingungen für ein gesundes Leben und konkrete Maßnahmen gebeten (Bericht).
Nunmehr sind Expert:innen eingeladen, die Zukunft der Gesundheitsförderung anhand von drei Fragen zu diskutieren. Wir dürfen Ihnen den link übermitteln!
Folgend möchte ich meinen Diskussionsbeitrag darlegen, zuvor aber noch auf die WHO Ottawa Charta von 1986 verweisen, die Gesundheitsförderung definiert und grundsätzlich die Erfordernisse auch für Österreich schon lange aufzeigt.
Zu den drei Fragen …
Welche Veränderungen sind am wichtigsten, damit sich alle in Österreich lebenden Menschen an einer hohen Lebensqualität und vielen gesunden Lebensjahren erfreuen?
Das österreichische Gesundheitssystem ist von einer paternalistischen Haltung geprägt, die Mächtigen und Wissenden sorgen für das Wohl der Menschen, getragen von ihren Interessen und passenden Evidenzen. Gemessen an der Erwartung beschwerdefreier Lebensjahre und der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung ist der Outcome für die Bevölkerung bei hohen Kosten im internationalen Vergleich gering.
Hier muss Veränderung ansetzen, die Menschen sind aus der Behandlung als Objekte zu befreien, ihre Selbstermächtigung zu autonomen Subjekten ist zu ermöglichen. Es braucht die Zuerkennung von (Mit)Entscheidungs-Rechten auf Mikro-, Meso- und Makroebene. Damit die Menschen diese Rechte auch kompetent wahrnehmen können, sind ihnen begleitete Lernräume für Selbstwirksamkeit und Selbstorganisation zu eröffnen.
Die setting-orientierte Gesundheitsförderung in Form von „gesunden“ Bildungseinrichtungen, Betrieben, Kommunen ist ein Weg zu benötigten Lernräumen, sofern dabei Capacity Building im Mittelpunkt steht, nicht das Aneinanderreihen von Initiativen. Caring Communities böten im Pflegebereich den Rahmen für Selbstorganisation. Bei der Krankenbehandlung sind die Selbsthilfegruppen eine große Ressource für die Selbstermächtigung der Klient:innen.
Am besten entwickeln sich die Fähigkeiten allerdings bei der praktischen Anwendung, bei der Ausübung von (Mit)Entscheidungsrechten. An diesen mangelt es aber in Österreich erheblich.
Ein erfolgreiches Beispiel, wie es gehen könnte, liefern die Arbeitnehmendenrechte in Österreich; die den Arbeitnehmenden auf den drei Ebenen zuerkannten Rechte sind richtungsweisend für die Veränderungen zur Selbstermächtigung der Menschen im Gesundheitssystem.
- Das Individuum hat einklagbare Rechte und eine Vertretung zur Seite, die es berät und berechtigte Anliegen kostenlos vor Gericht bringt.
- Auf betrieblicher Ebene ist die Mitbestimmung der Arbeitnehmenden mit Betriebsräten institutionalisiert, die Wirkenden in den Betriebsräten werden von der Interessenvertretung der Arbeitnehmenden geschult, fachlich begleitet und beraten.
- Auf politischer Ebene ist die Interessenvertretung der Arbeitnehmenden gesetzlich verankert und demokratisch legitimiert, sie hat Einfluss auf betreffende Entwicklungen, baut auf fachliche Kompetenz und verfügt über eine weitgehend unabhängige Finanzierung.
Sind die Rechte der Bevölkerung im Gesundheitssystem analog den Arbeitnehmenden in Österreich strukturell verankert, gewinnen deren Bedürfnisse und Bedarfe im System stark an Bedeutung, aus Objekten mit Erkrankungen werden autonome Subjekte. Die Menschen ihrerseits bekommen Raum um sich selbstbestimmt einzubringen, in den geschaffenen Institutionen wachsen kompetente Vertreter:innen der Anliegen der Bevölkerung im Gesundheitssystem heran, die auf Augenhöhe beim Dreiklang Politik, Wissenschaft und Praxis mitgestalten (nicht nur, wie in „Vision Gesundheitsförderung 2050“ vorgesehen, in der Praxis partizipieren).
So wird es möglich, dass „sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können“, gemäß WHO Ottawa Charta das Erfordernis für ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden.
Welche konkreten Maßnahmen sollten in den nächsten 5 Jahren umgesetzt werden, weil sie am wichtigsten und wirksamsten sind und auch realisierbar wären?
Um den Menschen die Selbstermächtigung zu autonomem proaktivem Handeln für ihre Gesundheit und gegen Erkrankungen zu ermöglichen, sollten folgende Maßnahmen umgesetzt werden:
- Stärkung der Fähigkeiten zur Selbstorganisation und der Selbstwirksamkeitserwartung der Menschen im Gesundheitssystem durch weitere Intensivierung der Unterstützung der Selbsthilfegruppen, sowie durch die Förderung von strukturell verankerter Freiwilligen-Unterstützungsnetzwerken (als wesentlicher Teil von Caring Communities) in regionalen Settings.
- Einrichtung von Klient:innen-Räten in allen stationären Einrichtungen des Gesundheitssystems, in denen Klient:innen oder ihre Angehörigen bei allen sie betreffenden Fragen mitentscheiden können (vgl. cliëntenraad in NL). Die Bedürfnisse und Bedarfe der Klient:innen erhalten so das ihnen zustehende Gewicht, zudem entsteht ein Reservoir für kompetente Interessenvertreter:innen.
- Bündelung des Wirkens für aktive Teilhabe der Bevölkerung im Gesundheitssystem: der Interessenvertretung, der Vernetzung der Akteur:innen, der Förderung der Selbstorganisation, der Befähigung die eigenen Interessen zu vertreten, dem Beistehen in rechtlichen Angelegenheiten sowie auch der Bildung der öffentlichen Meinung bzgl. der Erfordernisse der Bevölkerung.
Da die Etablierung einer eigenen Institution mittelfristig unrealistisch erscheint, ist diese Bündelung bei einer bestehenden potenten Organisation anzusiedeln. Die entstehende Wirkungsmacht muss zumindest jener der derzeit das Gesundheitssystem dominierenden Interessenvertretung entsprechen.
Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit die genannten und weitere Maßnahmen für Gesundheitsförderung breit und nachhaltig umgesetzt werden können?
Wenn in Österreich nur 2 Promille der öffentlichen Gesundheitsausgaben in die Gesundheitsförderung fließen (70 Mio. von 31 Mrd. EUR), ist offenkundig wo das zentrale Problem der Gesundheitsförderung liegt. Damit das Geld den Weg entsprechend den Bedürfnissen und Bedarfen der Bevölkerung im Gesundheitssystem findet, braucht es deren starker Interessensvertretung, auf Mikro-, Meso- und Makro-Ebene.
Gesundheitsförderung, wie auch die Interessen der Bevölkerung im Gesundheitssystem, leiden unter der Unverbindlichkeit im System. Das äußert sich in der vorherrschenden Projektitis und dem Mangel an einklagbaren Rechten bzw. Pflichten der öffentlichen Hand.
Am Beispiel Caring Community: Es braucht die gesetzliche Verpflichtung der Gemeinden, der Bürger:in im Falle von Pflegebedarf eine bezahlbare Lösung bereitzustellen, verbunden mit finanziellen Förderungen zum kommunalen Aufbau einer sicherstellenden Struktur in Amt, Freiwilligen-Netzwerken und Vernetzungen professioneller Anbietender.
Klient:innen-Räte sind in fortschrittlichen stationären Einrichtungen schon ansatzweise vorhanden, flächendeckend ist ihre Etablierung ohne gesetzlicher Verpflichtung (gleich in den Niederlanden) allerdings nicht erreichbar.
Als potente Organisation für die Aufnahme der Bündelung der Unterstützungsleistungen für die Selbstbestimmung der Bevölkerung im Gesundheitswesen kommt in Österreich derzeit nur die Arbeiterkammer in Frage.
Eine zentrale Rolle innerhalb des zu bildenden eigenständigen Teils in der AK sollten die Patent:innenanwälte einnehmen, die dann nicht mehr von den Hauptbetreibern der stationären Einrichtungen des Gesundheitssystems – den Ländern -, sondern in einem demokratischen Akt von der Bevölkerung für eine Arbeitsperiode bestimmt werden. Finanziell sollte das entstehende Interessens- und Kompetenzzentrum über die Einhebung einer eigenen minimalen Umlage bei allen Krankenversicherten unabhängig gestellt sein.
Das österreichische Gesundheitssystem erarbeitet gemessen an der Erwartung beschwerdefreier Lebensjahre (oberstes österreichisches Gesundheitsziel) bei hohen Kosten nur bescheidene Ergebnisse. Um an diesem Problem etwas zu ändern, muss die Denkweise im Gesundheitssystem geändert werden. Statt die Menschen als Objekte zu versorgen, sind sie als selbstbestimmte autonome Subjekte anzuerkennen, einzubeziehen und zu behandeln. Dazu braucht es Strukturveränderung und die Selbstermächtigung der Menschen; es ist Aufgabe der Gesundheitsförderung die Menschen und Institutionen dabei zu begleiten und zu fördern.
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Bild von Sammy-Sander auf Pixabay